Freitag, 22. Mai 2020

Auf dem Mond


Efeu wächst über die Fenster.
Du bist alt
schon über neunzig
und dir wurde gesagt
wenn du alt bist
dann bist du allein
und deshalb ist das so.

Es gibt einen Virus
und niemand darf dich mehr besuchen
und die wenigen Menschen
die ab und zu in dein kleines Zimmer eindringen
sehen so aus
als besuchten sie gerade den Mond.
Womöglich bist du dort hingezogen
denkst du
irgendwann als du kurz
eingeschlafen bist
wie sooft am Nachmittag
wenn du auf deiner weichen, roten Decke liegst 
und für einen Moment die Augen schließt. 

Blick auf deine Zimmertür
die schon so lang verschlossen ist
dass du dich bereits gefragt hast
was sich dahinter wohl verbirgt.
Vielleicht hat sich die Welt da draussen verändert
während du Woche um Woche
auf deiner roten Decke lagst
vielleicht ist der Flur dahinter längst verschwunden
auf dem die vielen anderen saßen
und auf die jeweilige Jahreszeitendekoration starrten
Vielleicht ist die Kantine nur noch Fassade
sind die Tische auseinander gefallen
das Essen fad und schimmelig
die Fenster verdreckt, die Personalzimmer verlassen
die Tapete bröselig geworden.

Vielleicht bist du die Einzige
die übrig geblieben ist
die Einzige, die den Virus überlebt hat
auch wenn niemand damit gerechnet hätte.

Du magst den Fernseher nicht mehr
sagst du.
Früher, da hättet ihr euch gut unterhalten.
Er hat dir vom Sport erzählt, von Musik, ab und zu 
etwas witziges. 
Aber seit dem die Menschen von dir fort bleiben
seit dem du nicht mehr sehen darfst 
was sich hinter deiner Zimmertür verbirgt
seitdem habe er nur noch ein Thema
Wie ein alter, lästig gewordener Ehemann,
über die viel zu langen Jahre unerträglich geworden
der all deine Schwachstellen und Wunden kennt 
und sie nur so zum Spaß
mit Salz bewirft.
Der Einfachheit halber,
hast du ihn ausgeschaltet
die Fernbedienung 
unter deinem Nachttischschränkchen versteckt.

Nun gibt es nur noch dich.
Und ab und zu die Menschen vom Mond. 

Wenn sie vorbeikommen
öffnen sie dein Fenster
und schieben dich davor.
damit der Weg
im Fall der Fälle
nicht so weit sei
gen Himmel.

Blau 
Ist alles was du siehst. 

1969.
Du warst mit deinem Fernseher noch befreundet
hast das spektakuläre Ereignis gesehen.
Die Mode aus dieser Zeit
scheint wieder aktuell
die Menschen um dich herum
schleichen in weissen Anzügen vor dir her
die Scheiben vor ihrem Gesicht
beschlagen
während sie mit dir reden
verstehst du nichts.
Deine Ohren zu alt
ihre Worte aus einer anderen Zeit
der Stoff vor ihren Mündern zu dick.

Es sind schon längst andere geworden
die über dich bestimmen. 
Du verlässt deine rote Decke.
Verlässt dein Zimmer.
Verlässt den Rollstuhl.
Nimmst die Dinge, die du noch hast.
Deine Uhr, die Efeupflanze und die Hochzeitsbilder
deiner Kinder.
Du starrst auf das Blau vor deinem Fenster,
atmest tief ein

du musst nicht gehen
um dort anzukommen
wo du schon bist

unter deinen Füßen der Mond. 














Montag, 21. Januar 2019

Gabba in Paris





Text und Ton: aus der Werbung



Und wir laufen durch Paris und Paris ist teuer. 
Bevor wir irgendwo einkehren können werfen wir unser Geld aus den Taschen auf die Straße. Jetzt sind wir frei. Wir verschwinden in einem kleinen Garten, der schwarz-weiss ist und in dem sich Menschen vor audiovisueller Kunst verstecken. Wir können diese Menschen nicht sehen, denn sie sind gut getarnt, sie tragen weisse Hemden und schwarze Hosen. Kopfhörer hängen von den Decken und flüstern uns zu, dass Paris die Stadt der Liebe sei doch wir hören ihnen nicht zu, auch wenn wir damit das einzige Ausdrucksmittel missachten, welches Kopfhörer besitzen. Wir essen Crêpes mit Ei, gerührtes Ei, und der Crêpe würde genau so schmecken, hätte man kein Ei darauf getan. Als wir später auf eine Party gehen, haben sie rot weisse Fahrradlichter an Wände und Kontrabässe gehangen und wir tanzen auf Slowrock, obwohl wir gar nicht wissen wie das geht, denn unsere Lieblingsmusik ist Gabba. Der Mann der hinten in der Ecke sitzt, sagt, dass er schon längst tot sei. Jemand hat ihm eine Kugel durch den Kopf geschossen. Er hat sogar gespürt, wie es sich anfühlt, zu sterben. Es sei alles sei ganz warm geworden um ihn herum. Er wusste, dass er dem Tod nicht mehr entkommen konnte und hatte seinen letzten Wunsch geäußert. Er wollte nach Paris. Es war mühselig gewesen, doch hatte funktioniert. Vielleicht hätte er gerne noch Notre Dame besichtigt, doch das alles hätte zehn Euro Eintritt gekostet. Und er hatte doch direkt wie wir sein Geld auf die Straße geworfen, indem Moment, als er Paris betreten hatte. Schlau war er. Und so sah er Notre Dame nur von aussen, wie sie allmählich in das glitzernde Blau des Himmels eintauchte, bis der Himmel die ganze Kathedrale verschluckte, so, wie er irgendwann auch uns verschlucken würde. Überall kann man Analogien entdecken. Und nachdem der Mann, der schon tot war, gesehen hatte, wie Notre Dame verschluckt worden war, schleppte er sich die letzten Meter mit dem Fahrrad auf diese Party. Er sitzt zwischen den Fahrradlichtern und würde genau so wie wir gerne auf Gabba tanzen, wenn er nicht schon so schrecklich tot wäre. 









Freitag, 4. Januar 2019

Abendveranstaltung


Das ist ein perfider Tag. Er hat mit mir um 10 Uhr einen Termin ausgemacht und ihn fünf Minuten vorher abgesagt weil er gestern eine Abendveranstaltung hatte. Dann hat er das Wasser in der Wohnung abgestellt und dafür einen Großteil davon in den Keller verlegt. Schließlich sagt er, ich solle die Heizung ausschalten weil sonst alles explodiert und das irgendwie unangenehm wäre, da der Winter vor der Tür stehe. 

Ich sag, ich mach nicht auf.
Aber der Tag zwingt mich. 

Ich stehe also mit meiner Wärmflasche vor der Tür und die Winterblätter klatschen mir ins Gesicht. Die Abendveranstaltung von gestern hat sich mittlerweile selbstständig in meinen Kopf verlegt und sich von einem harmlosen Event zu einem Tornado entwickelt. Sie fegt unerbittlich über meine Synapsen hinweg. Ich begrüße den Winter kurz und weise ihn darauf hin, dass er das nächste mal vorher fragen möge, ob er vorbeikommen kann. Er streicht mir ein paar Winterblätter aus dem Gesicht und grinst mich an. Ich nehm ihn mit nach oben. Wir setzen uns auf den Fußboden und machen das Fenster auf. Dann nimmt er mir die Wärmflasche ab und wirft meine Bettdecken aus dem Fenster. Wie das so ist mit Gästen, sie dürfen sich einiges erlauben. Er möchte einen neuen Termin mit mir ausmachen. „Wie wär’s morgen um 10?“, fragt er. Ich nicke stumm. Der Tornado in meinem Kopf ist kaum noch auszuhalten. Ich mag den Winter eigentlich, wir verstehen uns. Aber… Bevor ich weiterdenken kann, fällt aus dem Wirbelsturm in meinem Gehirn ein Gedanke heraus. Der Winter sauge mir nur Energie, sagt der Gedanke. Ich verdränge ihn schnell. „Nein“, sagt der Gedanke, „ich bin noch da“. „Na gut", sage ich. 

Ich schicke den Winter auf eine Abendveranstaltung, auf der er elf Bier trinken muss, drei Jägermeister von der Bedienung ausgegeben bekommt und dazu Billiard spielt. In der Hoffnung, dass wir uns morgen nicht wieder sehen. 






Sonntag, 25. November 2018

3 Stunden in Gelsenkirchen & die Rückkehr als Millionärin







Sprecher: Christoph Collenberg
Ton: Kontrabass und Gespenst Piano



Mir haben schon einige gesagt: „Fahr da nicht hin.“ Ich bin trotzdem hingefahren. Es war Gelsenkirchen. Klingt eigentlich ganz schön.  Immerhin, es gibt Cola für 55 Cent, direkt am Bahnhof. Zieht man das Pfand ab, für 40. Steht auf dem Preisschild. Und tippt auch die Verkäuferin ein. Ich kann es nicht glauben. Ich kauf hier gerade ein für weniger als ein Euro. Das ist mir das letzte mal mit Lakritzschnecken passiert, da war ich acht und der Euro noch zwei Mark. Na gut, es ist Pepsi Cola und sie ist warm. Weil’s im Kühlschrank auch schon warm war. Aber Licht gab’s im Schrank. Vielleicht war’s auch nur ein Lichtschrank und ich hab das alles ganz falsch verstanden. Ohne Licht hätt ich vielleicht nicht erkannt, dass ich mir da gerade Pepsicola ziehe und wär' stattdessen an etwas anderes gelangt. Vielleicht an kalte Caprisonne. Scheint wieder sehr im Trend zu sein, die Caprisonne. Da laufen sie alle mit rum, am Bahnhof von Gelsenkirchen. 

Ich sitze mit meiner Pepsicola am Gelsenkirchener Busbahnhof. Ich finde, ein Busbahnhof zeigt den Charakter einer Stadt. Es gibt Busbahnhöfe, an denen man Lust bekommt, in die weite Welt hinauszufahren. Und es gibt Busbahnhöfe, an denen möchte man einfach nur zurück in den Geburtsschoß kriechen und warme Muttermilch durch Hautnäbel säugen. Das ist der Busbahnhof in Gelsenkirchen. Es ist ein heisser Tag und der Bass und eine Tasche ziehen an meinem Rücken. Eine Schar blasser Kinder zieht neben mir an einer noch blasseren Mutter. Die Kinder versuchen der Mutter das Sprechen beizubringen. Eine schwierige Aufgabe, denn die Mutter leidet an schwerer Legasthenie, Trotz oder einfach nur Denkmangel. Vielleicht würde das Vitamin C aus der Caprisonne hier helfen. Das blasse Mädchen sagt: „Mama, wo steigen wir aus?“ Die blasse Mutter sagt: „Das wirst du schon sehen.“ Das blasse Mädchen sagt: „Steigen wir Wetterstraße aus?“. Die blasse Mutter hat bereits gelernt, dass nicht nur Sprache, sondern auch Gestik und Mimik in menschlicher Kommunikation eine hohe Bedeutung besitzen, presst ihr Gesicht zusammen, beugt sich vor’s blasse Kind und zischt: „Das ist doch egal!“  „Mama, ich will doch nur nachgucken, wo wir aussteigen.“ sagt das blasse Kind. Jetzt quetscht die Mutter ihre Augen hervor. Ihr Gesicht wandelt sich zu einer ranzigen, trotzigen Pfirsich: „Das findest du eh nicht!“ Alles klar, hier wird wieder wild gedreht, für RTL. Ich schieb mich und mein Gepäck aus der Bildfläche. 

Mein Bus kommt von Steig 6. Steig 6 ist bekannt dafür, dass da am meisten gerotzt wird. Hier gab’s sogar schon mal Rotzüberschwemmung, 1993, doch danach wurde hier alles renoviert und seitdem gibt’s Gullis und Abwasserkanäle, nur für Rotze. Ich find das ist ne gute Einrichtung. Natürlich bekommt man auch trotzdem noch immer ein bisschen was ab, aber na gut, meine Güte, wir haben 30 Grad und die Pepsicola wird auch nicht kälter. Frisch berotzt steige ich an Steig 6 in die Linie 389. Mit mir eine kleine, mit Löckchen übersäte Frau, deren Mundwinkel fast bis zum Boden hängen. Sie hievt ihren Rollator und 5 Tonnen Alditüten mit in den 389. „Richtung Zelle?“, krächzt sie. Ich nicke. Sie setzt sich vor mich. Ich starr immer wieder auf ihre Mundwinkel. Gleich wird sie mich anmeckern. Aber stattdessen fängt sie an zu erzählen. Klar, man, wir sind Homies. Beide aus der gleichen Heimat, Steig 6, beide im selben Boot, 389, und beide schwer bepackt. „Ich wollt eigentlich heut morgen schon nach Zelle… Aber da… Da war meine Hornhaut zu dick. Sie wissen schon, an den Zehen.“ Klar, ich weiss Bescheid. Hab’s auch schon oft wegen meiner dicken Hornhaut nicht ins Bad geschafft. „Da musst ich die erstmal wegmachen lassen. Letztes mal hat mich das zwanzig Euro gekostet und wissen Sie, dieses mal ?“ Ich bin gespannt. „Dieses mal nur zehn!“ 

Mir wird schnell klar, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse in Gelsenkirchen andere sind als woanders. 40 Cent für Cola, 10 Euro für Hornhautreinigung und sage und schreibe 50 Euro soll ich schließlich für meine Quarktasche bezahlen, als ich wieder zurück am Bahnhof bin und nach Hause will. Ganz kurz bin ich leicht empört. Doch dann lächelt die Verkäuferin mich an und sagt: „Und hier, eine Million zurück.“ 

Als ich aus dem Laden gehe, schaut mir jemand sehr aufdringlich hinterher. Ich schau zurück. Bin leicht pikiert. Er dreht sich noch mal um, starrt mich immer noch an. Noch bevor ich irgendwas denken kann, sagt jemand anderes für mich: „Komisch, ne?!“






Freitag, 23. November 2018

Eine Geschichte vom Meer







Sprecher und Ton: Eric Eggert



Sie haben das Meer auf die Straße geworfen. Es war das letzte, was sie auf die Straße geworfen haben und jetzt haben die Menschen endlich wieder Platz.

Vor ihren Häusern tummeln sich Straßenlaternen, Bauzäune und Sandberge, denn es ist Sperrmüllzeit. Manchmal ist es schwierig, sich von Dingen zu trennen. Aber irgendwann mussten die Leute einsehen, dass die Sandberge auf dem Wohnzimmerteppich nur den Weg zur Toilette behindern, dass die Bauzäune vor dem Kühlschrank stören, dass die Straßenlaternen Hauswände einreißen und Dachschäden provozieren. Doch sich von Dingen zu trennen bedeutet auch, alte Gewohnheiten aufzugeben. So wie Erwin zum Beispiel, der jeden Abend seinem Bauzaun noch einmal über die Drähte streichelte und ihn dann mit einer Markise zudeckte, bevor er zu Bett ging. Oder Mathilde, die sich nach ihrem abendlichen Bad noch eine Weile auf den Sandberg legte, der zwischen Tisch und Fernseher sein Dasein fristete. Nur Josef fühlte sich schon immer von seiner Straßenlaterne gestört. Viel zu hell, dachte er. Und immerzu brannte sie die ganze Nacht durch, obwohl er doch bereits um Mitternacht zu Bett ging. 

Im Fernsehen, vor dem meistens der Sandberg lag und den deshalb die meisten Menschen nur wie ein Radio benutzten, hörten sie von einem aktuellen Trend: Man solle sich von unnötigen Gegenständen und Dingen befreien, sagte der Fernseher. Und er sagte es nicht nur einmal. Er predigte von nun an jeden Abend, dass das Leben um so viel reicher, lebendiger und kreativer werden würde, wenn man nur einmal gründlich ausmistete. Das machte die Menschen neugierig. Sie schoben den Sandberg zur Seite und schauten sich den Film in voller Länge an. Hier sahen sie Menschen, die zwischen leeren Betonwänden lebten und sich von Porzellantellern ernährten. Die auf blanken Steinböden schliefen und sich danach unter Duschen stellten, aus denen kein Wasser mehr herauskam. Doch es waren glückliche Menschen. Das erkannte man daran, dass sie die ganze Zeit über lächelten und freundlich zu ihren Betonwänden waren. 

Die Menschen waren ziemlich beeindruckt von dem Werbefilm über ein leeres Leben. Und sie begannen zu überlegen, was sie hinauswerfen könnten, damit ihr Leben glücklicher, freier, vollkommener werden würde. Da man aufgrund der Bauzäune sowieso nur schlecht an die Glasvitrine kam, stellten sie die Vitrine als erstes auf die Straße. Danach kam der Wohnzimmerteppich an die Reihe, den man sowieso nie gesehen hatte, da auf ihm der Sandberg saß. Viel später, als sie den Werbefilm über glückliche Menschen schon sooft gesehen hatten, dass sie ihn auswendig mitsprechen konnte, stellten sie auch den Fernseher hinaus. Schließlich befanden sich nur noch die nötigsten Dinge im Haus: Der Sandberg. Der Bauzaun. Die Straßenlaterne. Auch wenn die meisten sehr fasziniert von dem Werbefilm waren, fiel es den Menschen schwer, sich von diesen letzten, grundlegenden Dingen zu trennen. Es dauerte Monate, Jahre, ja bei manchen sogar noch länger, bis sie es schafften. 

Doch irgendwann erreichte jeder den Tag, der ihm eine Zukunft zwischen leeren Betonwänden ermöglichen sollte. Es war der Tag des Sperrmülls. Und die Menschen taten sich zusammen, schoben die Bauzäune zum Fenster hinaus, schmissen die Sandberge vom Dach und rollten die Straßenlaternen die Treppe hinunter. Es war bereits spät und dunkel und die aus den Häusern geworfenen Straßenlaternen erhellten mit einem mal die Nacht. Die Menschen blickten plötzlich auf das weite sandige Feld, welches sich vor ihren Haustüren auftat. Ein endloses Feld, das bis an den Horizont reichte oder sogar über ihn hinauszugehen schien. So genau konnte man es nicht erkennen. 

Und mit einem mal kam ihnen ein verrückter Gedanke. Am Ende der Straße, im Haus Nummer 87,  wohnte etwas, das sich schon sehr lange nicht mehr hatte blicken lassen. Man munkelte, dass es dort in völliger Isolation, in Einöde und Dreck lebte. Dass es nur wenig Geld besaß, höchstens ein paar verrostete Münzen. Dass es manchmal verschwand, wenn es den Mond zulange angeschaut hatte. Dass es oft betrunken war und unter emotionaler Instabilität litt. Dass es mehr Platz wegnahm, als alle Straßenlaternen, Sandberge und Bauzäune der ganzen Welt zusammengerechnet. 
Das, was dort wohnte, war das Meer. 

Und genau an dem Abend, an dem die Menschen sich endlich selbst bereinigt und allen unnötigen Ballast hinausgeworfen hatten, spürten sie, dass sie nun auch noch diesen letzten Schritt unternehmen mussten, um sich endgültig frei zu fühlen. Sie taten sich zusammen und gingen zum Haus Nr. 87. Sie klopften nicht an, sondern sprangen ohne Vorwarnung durch die angelehnte Balkontür hinein. Und dann schmissen sie das Meer hinaus. Alles ging sehr schnell. Das Meer schlug eine kleine Welle, doch es war zu überrascht und konnte sich nicht ordentlich wehren. Minuten später lag es bereits vor dem Haus. Am nächsten Tag stand in allen Zeitungen, dass das Meer kein Geld mehr für die Miete gehabt und man es deswegen hinausgeworfen hätte. Dass diese Schlagzeilen eine blöde Erfindung von Klatschblättern sind, muss ich nicht extra erwähnen, mache es aber doch. 

Und so liegt das Meer heute vor den Sanddünen und Bauzäunen am Rande der Stadt, auf dem Platz, auf dem noch vor kurzem die große Einöde herrschte. Des Nachts wird es oft von einer Straßenlaterne beschienen. Und manchmal, wenn der Mond es ruft, verschwindet es. Doch am nächsten Morgen liegt es wieder vor den Sandbergen und Bauzäunen, als wenn nie etwas gewesen wäre. 






Foto: Bauzaun





Montag, 19. November 2018

Der Prinz aus Abu Dhabi


Du lässt deine Bierflasche ein paar mal vor uns auf den Boden fallen und hebst sie wieder auf. Danach präsentierst du uns ihren unversehrten Zustand wie ein Zauberkünstler. „Seht ihr, Plastikbier ist viel lukrativer als das Gesöff ausser Glasflasche!“, sagst du. Es ist spät und der Weg von Wuppertal nach Düsseldorf kurz. 

Du bist wahlweise Polizist, Nachtwächter oder Puffbesitzer. Jedenfalls irgendetwas, für das man nachts arbeitet. Aber eigentlich wärst du lieber ne Frau. Ne sexy Frau, die über die Kö läuft und sich bei ihrem Prinzen aus Abu Dhabi einhakt. Wenn Angela Merkel sagt, dass wir das schaffen, fragst du dich, wer sind wir, und was ist das. Dann redest du französisch. Sagst, dass du aus Polen kommst. Als uns Düsseldorf erwartet, liegen deine Geschichten auf dem Boden. Du sammelst hektisch alles ein, hebst deine Hand zum Gruß und rennst zur Tür. Auf dem Gleis wartet der Prinz aus Abu Dhabi auf dich. Es gibt Plastikbier und das Ende des Tages. 





Samstag, 27. Oktober 2018

Dortmund. Das Steinschwein und der Jüngling unter der Zeche.



Ich wollte eigentlich nach Münster. Aber dafür war ich zu spät dran. Ich nehme einfach den nächsten Zug. Der fährt nach Dortmund. 

In Dortmund ist es ein bisschen so wie in Usbekistan. Es gibt jede Menge Bankautomaten, die aber alle kein Geld ausspucken. Der Bankautomat denkt, ich hätte meine Karte falsch herum in ihn hinein gesteckt. Dass ich schon einiges an Erfahrung in diesem Gebiet mitbringe, glaubt er mir nicht. Ich möchte ihm gerne mein Abizeugnis oder irgendetwas anderes zeigen, was noch nie jemand sehen wollte. Ich habe noch 1 Euro 32 in meiner Hosentasche und eine kleine Taschenlampe. Da ich als Touristin in Dortmund ein paar wirtschaftliche Pflichten zu erfüllen habe, investiere ich das Geld in Ein-Euro-Eis. Es ist jetzt Herbst aber in Dortmund ist die Hölle los. Es gibt eine Einkaufsstraße. Wenn die Deutschen aussterben, dann nicht hier. Vielleicht in Soest oder in Weilerswist. Die Geburtenrate im Dortmunder Primark ist jedenfalls hoch. Primark wirft Menschen. Und atmet sie danach wieder ein. Ich möchte nicht in einem Dortmunder Primark reinkarniert werden. Ich rufe bei der zugehörigen Stelle für pränatale Angelegenheiten an um das alles zu regeln. Eine freundliche Mitarbeiterin am anderen Ende der Leitung weist mich darauf hin, dass ich schon mitten drin sei im Leben und sie aus diesem Grund für mich nicht mehr zuständig sei. Bei weiteren Fragen solle ich mich ab jetzt an Finanzämter oder Elektronikmärkte wenden. Ich fühle mich hilflos, aber erwachsen. Ich glaube das gehört zusammen. Ich hätte gerne noch ein Ein-Euro-Eis. 

Ich entfliehe der Straße des Todes und steige in eine Bahn ein. Sie fährt ein paar Stationen unterirdisch, dann zischt sie wie eine Rakete in die Stratosphäre der Dortmunder Zechennostalgik empor. Ich habe mir vorgenommen, mit niemandem zu sprechen. Ausser mit diesem braungelockten Jüngling vor mir, der sich gerade eine Kippe dreht. Er ist der einzige weit und breit. Ich laufe erst einmal an ihm vorbei, bevor ich ihn anquatsche, denn ich bin schüchtern. Dann frage ich ihn, ob das hinter ihm eine Zeche sei. Er sagt ja. Und dreht seine Kippe. Ich frage ihn noch irgendwas, denn ich kann ja jetzt nicht einfach gehen, wo wir schon so mitten ins Gespräch vertieft sind. Er sagt noch mal ja. Meine Güte, dieses Gespräch ist sehr eifrig. Schon wieder bin ich dran. Mir fällt langsam nichts mehr ein. Aber unhöflich sein ist auch blöd. Ich frage noch etwas. Er schaut weiter auf seine Kippe. Plötzlich blickt er mich an, zeigt unerwartet auf den Turm hinter ihm und fragt: „Möchten Sie da hoch?“ Er hat mich gesiezt. Das macht man hier so in Dortmund. Vielleicht gehört er mit der 1984 stillgelegten Zeche hinter ihm und den zwei Quadratmetern um ihn herum aber auch einem ganz anderen Kulturkreis an. Noch vor einer hundertstel Sekunde bin ich davon ausgegangen, dass der Braungelockte und ich miteinander alt hätten werden können. Jetzt weiss ich, dass das nicht geht, weil ich bereits alt bin. Ich leuchte ihm ein bisschen mit der kleinen Taschenlampe in die Augen, nur so zum Spaß. Er fragt: „Warum tun Sie das?“ Obwohl ich Dinge tue, die man als Zeichen unserer Vertrautheit untereinander interpretieren könnte, siezt er mich noch immer. Ich verstehe, dass es mit uns vorbei ist, bevor es angefangen hat und gehe. 

Ich gelange in ein totes Viertel. Hier gibt es verrammelte, verlassene Bäckereien, Metzgereien, Kioske. Mehrere Waschmaschinen, die am Straßenrand auf ihren Lebensabend blicken. Drei schiefe Banken, davor Müll. Das einzige, was noch relativ lebendig geblieben ist, ist ein Steinschwein. Ich setze mich mit dem Steinschwein in den Schneidersitz. Da das Steinschwein nicht so gut im Schneidersitz sitzen kann, kippt es um. Ich sitze neben dem umgekippten Steinschwein im Schneidersitz und blicke zurück auf meinen Lebensabend in Dortmund. Es war sehr schön. Jetzt ist es Zeit zu gehen. 






    Foto: die vierte Bank
 Protagonist*in: der siebte Wagon