Sonntag, 25. November 2018

3 Stunden in Gelsenkirchen & die Rückkehr als Millionärin







Sprecher: Christoph Collenberg
Ton: Kontrabass und Gespenst Piano



Mir haben schon einige gesagt: „Fahr da nicht hin.“ Ich bin trotzdem hingefahren. Es war Gelsenkirchen. Klingt eigentlich ganz schön.  Immerhin, es gibt Cola für 55 Cent, direkt am Bahnhof. Zieht man das Pfand ab, für 40. Steht auf dem Preisschild. Und tippt auch die Verkäuferin ein. Ich kann es nicht glauben. Ich kauf hier gerade ein für weniger als ein Euro. Das ist mir das letzte mal mit Lakritzschnecken passiert, da war ich acht und der Euro noch zwei Mark. Na gut, es ist Pepsi Cola und sie ist warm. Weil’s im Kühlschrank auch schon warm war. Aber Licht gab’s im Schrank. Vielleicht war’s auch nur ein Lichtschrank und ich hab das alles ganz falsch verstanden. Ohne Licht hätt ich vielleicht nicht erkannt, dass ich mir da gerade Pepsicola ziehe und wär' stattdessen an etwas anderes gelangt. Vielleicht an kalte Caprisonne. Scheint wieder sehr im Trend zu sein, die Caprisonne. Da laufen sie alle mit rum, am Bahnhof von Gelsenkirchen. 

Ich sitze mit meiner Pepsicola am Gelsenkirchener Busbahnhof. Ich finde, ein Busbahnhof zeigt den Charakter einer Stadt. Es gibt Busbahnhöfe, an denen man Lust bekommt, in die weite Welt hinauszufahren. Und es gibt Busbahnhöfe, an denen möchte man einfach nur zurück in den Geburtsschoß kriechen und warme Muttermilch durch Hautnäbel säugen. Das ist der Busbahnhof in Gelsenkirchen. Es ist ein heisser Tag und der Bass und eine Tasche ziehen an meinem Rücken. Eine Schar blasser Kinder zieht neben mir an einer noch blasseren Mutter. Die Kinder versuchen der Mutter das Sprechen beizubringen. Eine schwierige Aufgabe, denn die Mutter leidet an schwerer Legasthenie, Trotz oder einfach nur Denkmangel. Vielleicht würde das Vitamin C aus der Caprisonne hier helfen. Das blasse Mädchen sagt: „Mama, wo steigen wir aus?“ Die blasse Mutter sagt: „Das wirst du schon sehen.“ Das blasse Mädchen sagt: „Steigen wir Wetterstraße aus?“. Die blasse Mutter hat bereits gelernt, dass nicht nur Sprache, sondern auch Gestik und Mimik in menschlicher Kommunikation eine hohe Bedeutung besitzen, presst ihr Gesicht zusammen, beugt sich vor’s blasse Kind und zischt: „Das ist doch egal!“  „Mama, ich will doch nur nachgucken, wo wir aussteigen.“ sagt das blasse Kind. Jetzt quetscht die Mutter ihre Augen hervor. Ihr Gesicht wandelt sich zu einer ranzigen, trotzigen Pfirsich: „Das findest du eh nicht!“ Alles klar, hier wird wieder wild gedreht, für RTL. Ich schieb mich und mein Gepäck aus der Bildfläche. 

Mein Bus kommt von Steig 6. Steig 6 ist bekannt dafür, dass da am meisten gerotzt wird. Hier gab’s sogar schon mal Rotzüberschwemmung, 1993, doch danach wurde hier alles renoviert und seitdem gibt’s Gullis und Abwasserkanäle, nur für Rotze. Ich find das ist ne gute Einrichtung. Natürlich bekommt man auch trotzdem noch immer ein bisschen was ab, aber na gut, meine Güte, wir haben 30 Grad und die Pepsicola wird auch nicht kälter. Frisch berotzt steige ich an Steig 6 in die Linie 389. Mit mir eine kleine, mit Löckchen übersäte Frau, deren Mundwinkel fast bis zum Boden hängen. Sie hievt ihren Rollator und 5 Tonnen Alditüten mit in den 389. „Richtung Zelle?“, krächzt sie. Ich nicke. Sie setzt sich vor mich. Ich starr immer wieder auf ihre Mundwinkel. Gleich wird sie mich anmeckern. Aber stattdessen fängt sie an zu erzählen. Klar, man, wir sind Homies. Beide aus der gleichen Heimat, Steig 6, beide im selben Boot, 389, und beide schwer bepackt. „Ich wollt eigentlich heut morgen schon nach Zelle… Aber da… Da war meine Hornhaut zu dick. Sie wissen schon, an den Zehen.“ Klar, ich weiss Bescheid. Hab’s auch schon oft wegen meiner dicken Hornhaut nicht ins Bad geschafft. „Da musst ich die erstmal wegmachen lassen. Letztes mal hat mich das zwanzig Euro gekostet und wissen Sie, dieses mal ?“ Ich bin gespannt. „Dieses mal nur zehn!“ 

Mir wird schnell klar, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse in Gelsenkirchen andere sind als woanders. 40 Cent für Cola, 10 Euro für Hornhautreinigung und sage und schreibe 50 Euro soll ich schließlich für meine Quarktasche bezahlen, als ich wieder zurück am Bahnhof bin und nach Hause will. Ganz kurz bin ich leicht empört. Doch dann lächelt die Verkäuferin mich an und sagt: „Und hier, eine Million zurück.“ 

Als ich aus dem Laden gehe, schaut mir jemand sehr aufdringlich hinterher. Ich schau zurück. Bin leicht pikiert. Er dreht sich noch mal um, starrt mich immer noch an. Noch bevor ich irgendwas denken kann, sagt jemand anderes für mich: „Komisch, ne?!“






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