Sonntag, 28. August 2016

Caipirinha und das Ende der Existenzphilosophie

Ich bin Baeggi. Ich bin nun seit neunundzwanzig Jahren auf diesem Planeten. Und trotzdem kommt es mir jeden Morgen so vor, als sei ich noch nie hier gewesen. Manchmal versuche ich herauszubekommen, warum es sich so anfühlt.
Meistens lasse ich es bleiben, denn es gibt wichtigere Dinge zu tun.


Wichtigere Dinge, wie, kurz bevor man die Zwanzig verlässt, Zahnseide zu verwenden. Oder eine von den 700 Tomaten zu ernten, die gerade auf dem Hochbeet des Balkons emporschießen, auf dem ich mich befinde. Es sieht so aus, als wollten sie sich ernsthaft in Konkurrenz zu dem Flaschenpfand begeben, was mich von der anderen Seite des Balkons siegessicher angähnt: „Noch ein Dortmunder, und du kannst dir schon mal nen Transporter mieten, um uns zurückzubringen.“ Seit dem die mich jeden Abend so angrinen, bin ich auf Caipirinha umgestiegen. Das wiederum führt dazu, dass es noch mehr wichtige Dinge zu erledigen gibt. 


Dazu zählt beispielsweise die therapeutische Annäherung an eine kleine Zucht Maden. Die kleinen Zappelphilippe ernähren sich fast ausschließlich von Limettenschalen aus dem Mülleimer in der Küche und müssen nun aus diesem befreit werden, damit sie endlich ohne Einschränkungen auf unserem Küchenboden krabbeln und Fliegen fischen spielen können. Dass ich gerade eigentlich zum Spaghetti Eis essen verabredet bin, interessiert sie nicht. Ich frag mich langsam, warum ich eigentlich nie auf meine Mutter gehört habe. Die hatte schon vor zwanzig Jahren die intelligente Einsicht, dass Haustiere nur Dreck und Hungersnot mit sich bringen. „Mami, ich will unbedingt Maden.“ „Schön. Dann musst du dich aber auch um die kümmern.“ „Ok. Vielleicht Gassi gehen?“ „Mit Maden darfst du nur angeleint Gassi gehen.“ „Ich will aber nicht an die Leine.“ „Gut, dann bekommst du auch keine Maden.“ 


Nachdem ich so der Pflicht von Verantwortung übernehmen bereits früh genug entkommen war, beschäftigte ich mich erstmal eine Weile mit Philosophie. Philosophie ist die beste Art und Weise, sich nicht mit Verantwortung zu beschäftigen. Eine philosophische Frage verlangt keine Antworten. Eine philosophische Frage zieht ihre Daseinsberechtigung aus der reinen Existenz.  Alles kann, aber nichts muss aus ihr hervorgehen, sie muss nicht kacken, um zu sein. Ganz anders als der Mensch. Der Mensch muss atmen, der Mensch muss mit anderen Menschen Ligretto spielen und vögeln, der Mensch muss Flaschenpfand anhäufen und Caipirinha trinken. Je mehr Caipirinha der Mensch trinkt, desto mehr muss er Verantwortung dafür übernehmen, dass er danach noch mehr Caipirinha trinken will. Danach muss der Mensch meistens pinkeln. Wir sind nichts als ein produktorientiertes und beschäftigungssüchtiges Wesen. Seitdem ich das begriffen habe, habe ich aufgehört, mich mit Philosophie zu beschäftigen. Stattdessen gieße ich nun Tomaten, befreie Maden und produziere Flaschenpfand. 



Und am Ende des Tages blickt die Sonne mir noch einmal tief ins Gesicht, bevor sie sich zähneknirschend von der Erde verschlingen lässt. Sie hat sich vermutlich wieder einmal gefragt, was der ganze Quatsch hier überhaupt soll. Immerhin guckt sie mittlerweile seit 4,57 Milliarden Jahren in die Runde und kein Ende in Sicht. Keine Aussicht auf Rente, keine Aussicht auf Staatsbegräbnis trotz Prominenz, noch nicht mal die Gewissheit, vielleicht irgendwann wenigstens die Pubertät hinter sich zu lassen. Nach Milliardenjahren unruhigen Strahlens hat sie sich dazu entschieden, zum Christentum zu konvertieren, da es dort wenigstens keine Wiedergeburt gibt. Das wär' echt das Dämlichste, was der alten Frau jetzt noch passieren könnte.