Samstag, 15. Juli 2017

Nahtoderfahrung

Mein Handy ist weg. Whats app hat ich noch nie und meine unvirtuellen Freunde, von denen ich nun keine Telefonnummern mehr besitze, sind im Park und haben sich bereits damit arrangiert, dass ich nur noch zu fünfzig Prozent lebe. Und da man den 50 Prozent, die von mir noch übrig geblieben sind, keine Nachrichten mehr schicken kann, trinken meine Freunde jetzt das gute Dortmunder ohne mich. Mit meinen übrig gebliebenen 50 Prozent versuche ich, fit zu bleiben. Fit bleiben heisst, ich versuch meine mediale Verkrüppelung damit zu kompensieren, dass ich wenigstens zu Hause fast ausschließlich virtuell lebe. Ich muss nicht mehr aufm Balkon rumhängen, ich kann mir unsere Tomaten dort auch über Google Earth angucken. Ich werf meine Bettwäsche auf die Straße und häng für immer auf Facebook ab. Ist nicht schlimm, denk ich, da gibts ganz viel zu Essen auf der Startseite. Wetter ist auch meistens schön. Palmen ohne Ende. Babys. Aufblasbare rosa Plastikschweine. Toiletten sind leider Mangelware aber ich scheiss einfach auf die Pinnwand. Das haben andere auch schon gemacht.
Aber was mache ich, wenn ich auch hier mal sterben werde? Wenn das letzte bisschen, was von mir in dieser Welt noch übrig geblieben ist, noch nicht mal mehr in ein quadratisches Kästchen vor weiss blauen Hintergrund passt? 
Wenn ich sterbe, was wird dann aus meinem Profil? Verbrannt oder vergraben?
Und gibts Kuchen danach, oder wenigstens ein Foto davon? 
Und was ist mit der Asche, teilen? Die Pixel von meinem Profilfoto in meiner Lieblingsgruppe verstreuen?
Irgendjemand, ich weiss es, wird ein Foto von mir posten. Eins, wo ich noch sehr lebendig drauf aussehe, obwohl ich schon tot bin. Eins, auf dem ich ein Himbeereis in der Hand habe und im Hintergrund der Eifelturm steht. Auf dem Eifelturm wird „R.I.P“ stehen. Manche Menschen werden nicht wissen, ob das mir oder dem Himbeereis gilt. Und sie werden drunter schreiben: „Schönes Foto! Frohes neues Jahr, Süße!“. Das Himbeereis freut sich zurecht über das neue Jahr und übernimmt dann mein Profil. Es postet Waffeln und Pistazien und Mangoeis. Meine übrig gebliebenen Freunde werden denken, ich verdien jetzt meinen Lebensunterhalt mit Pistazieneiswerbung auf FB. Aber die meisten meiner Freunde gehen eh davon aus, dass ich schon seit Jahren tot bin. Schließlich bin ich selbst mit Handy noch nie in einer von ihren Whatsapp gruppen aufgetaucht.


Doch noch bin ich nicht tot. 
Mir ist nur langweilig. 
Dafür sterben andere. Mein altes Klapphandy zum Beispiel. Letztes Jahr. 
Nach seinem Tod ist mir sein Nachfolger nun dummerweise davon gelaufen. Kein Wunder. Es war ein Smartphone. Es hat sich von mir nicht artgerecht behandelt gefühlt. Ich habe mir weder das Wetter von ihm vorhersagen lassen noch die nächste Grillparty. Es wusste alles. Sein Allwissen hat meinen Minderwertigkeitskomplex verstärkt. Ich sterb lieber dumm als den ganzen Tag mit jemandem zusammen zu leben, der in meiner Hosentasche wohnt und alles besser weiss als ich. Das war der Grund, warum sich unsere Kommunikation irgendwann nur noch aufs Wesentliche beschränkt hat. Auf Dinge, die ich wusste und ihm gesagt habe. Wann ich morgens aufstehn will, dass ich nächste Woche einen Zahnarzttermin habe, dass in einer Stunde die Waschmaschine fertig ist. 
Wir hätten so viel zusammen machen können. Youtubetutorials erstellen. Pokemon suchen. Ich hätt gern ein Selfie von uns beiden gemacht. Doch mein Smartphone hatte keine Arme. Vielleicht war das der Fehler. Ich hab seinen Minderwertigkeitskomplex verstärkt. Was soll’s ? Es ist weg. Aus meiner Hosentasche ausgezogen und hat sich Asyl auf einem 2. Klasse Sitz der deutschen Bahn gesucht. Es wohnt dort nun direkt neben einem Psychopathen. Der Psychopath und ich waren ins Gespräch gekommen, weil er eins mit mir anfing. Er setzte sich neben mich und fragte, ob ich Törtchen essen will und hielt mir kleine Tortenböden unter die Nase. Weil ich keine Törtchen von fremden Männern annehme, fragte er mich, ob ich einen Beziehungsratgeber brauche. Ich sagte ihm, dass ich davon schon ca 30 im Schrank stehen und weitere 20 als Klopapier benutze. Nach seinem Geruch zu urteilen, ging ich davon aus, dass er den besten aller Beziehungsratgeber die letzten 5 Tage versoffen hatte. Ich rückte immer näher zum Fenster, bis ich die Erfahrung machte, dass man durch Glasscheiben tatsächlich nicht ohne weiteres hindurch kommt. Also schlug ich ein paar mal mit meinem Kopf gegen die Scheibe, aber niemand öffnete mir. Als wir nach meinen Ablehnungsversuchen von Ratgebern und Törtchen ohne Erdbeeren nicht weiter kamen, suchte ich das Ende des Gesprächs. Ich konnte es nicht finden, es musste sich wohl zusammen mit meinem Handy irgendwo in die Ritze zwischen den Bahnsitzen verkrochen haben. 
„Nächste Station. Leverkusen.“ sagte die Dame plötzlich durch das Mikrophon. „Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.“ Der Psychopath stand augenblicklich auf und brüllte: „Aber bitte nicht alle aussteigen! Sonst bin ich ja ganz alleine hier!“ Als ich kurz gecheckt hatte, dass ich nicht alle war, stieg ich aus. Aber ohne mein Smartphone.  Das ließ ich bei ihm. (Und zwar bewusst *)  Egal was man tut, es muss immer bewusst geschehen. Man sollte bewusst pinkeln gehen, bewusst Leute ankacken und bewusst Pferde töten. Niemand wird einem ins Wort fallen, solange man alles bewusst tut.  Ein mit „aber“ oder „und zwar“ versehenes „bewusst“ nimmt allen Kritikern ihre Waffen. Man kann wieder wie in der Pubertät verschlafen, verpeilt, beleidigend und emotional ausfällig sein. Hauptsache, man hat das alles bewusst getan.


Überleitung: Bewusst habe ich, seitdem mein Handy weg ist, immer auch ein bisschen Selbstmitleid in meine Badewanne gegossen.
Anderen läuft der Freund davon, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ersteres schlimmer ist.
Wenn du keinen Freund mehr hast, triffst du dich mit einer Freundin in einem Café, erzählst ihr, dass du keinen Freund mehr hast und schickst gleichzeitig dreiundzwanzig SMSe an andere Freundinnen, in denen steht, dass du keinen Freund mehr hast. Deine Freundin vor dir wird dich mitfühlend angucken, ebenso die 23 weinenden Emoticons. Wenn du Glück hast, gibts Papiertaschentücher zum anfassen. Doch wenn dein Smartphone weg ist, war’s das mit den heulenden Emoticons und dein noch existierender Freund vor dir blickt nicht dich traurig an, sondern sein Handy. Dazu sagt er: „Jetzt kann ich dir ja gar keine Nachrichten mehr schicken“ und wischt mit den Taschentüchern seine Tränen vom Display, während er deine Nummer löscht.
Da sind sie wieder. Die 50 %, die jetzt tot sind von mir. Mein zweidimensionales Ich hat es dank dieser bezaubernden Eigenschaft zwischen zwei Bahnsitze geschafft und fängt sich Nachrichten ohne Ende ein, ich in 3D bin eine traurige Reliquie in Farbe, mit Ton, und dennoch reif für die Glasvitrine. Ab und zu kommt jemand vorbei, guckt mich traurig an und sagt: „Wann hast du denn wieder ein Handy?“, was soviel heisst wie „Wie siehts aus mit der Wiedergeburt?“ oder „Wann bist du denn wieder sozial integriert?“ und aus der Serie „Wann bekommst du endlich Kinder?“ stammt. Ich sag: „Bald bestimmt.“ Aber man hört mich nicht, die Glasvitrine ist aus Panzerglas, ziemlich sicher. 


Ich bleib weiter still da sitzen und schau meinem Kopfkino zu. Auch wenn’s niemand zugibt, die letzte Folge aus der Staffel „Fragen mit endlich“ ist „Wann bist du endlich tot?“ und wie gesagt, zur Hälfte hab ich’s geschafft. Das ist der komplette Ausgleich dafür, dass ich immer noch keine Kinderfotos auf Facebook poste. Ich bin eben schnell, hab ein paar Punkte auf der To do Liste Leben nicht einfach abgehakt, sondern sogar übersprungen. Würde ich noch von der Aussenwelt wahrgenommen werden, wäre sie stolz auf mich. Doch die Aussenwelt löscht gerade 16 GB Erinnerungsfotos von mir. Ich kann richtig spüren, wie ein Teil von mir dahinsiecht. Gleiches Gefühl wie beim Blutabnehmen. Ist mir egal. Hier ist es schön, so allein. 


Für ne Zeit. Irgendwann hämmer ich wieder mit dem Kopf gegen die Glasscheibe, tagelang, und schließlich schaff ichs doch auch ohne Klingelton auf mich aufmerksam zu machen. 
Wenig später sitze ich in einem Restaurant und treffe mich mit Freunden zum Essen. Vor jedem von uns ein Teller mit Spaghetti, daneben Besteck, daneben Servierte. Und daneben, meine Unzulänglichkeit: Bei den anderen ein schwarzes kleines Viereck, bei mir nichts. Ich weiss nicht, vielleicht hat der Kellner bei mir was vergessen. Einen schwarzen rechteckigen Aperitif vielleicht. Einen Vorspeisensalat in Gestalt einer einzigen riesigen viereckigen Miesmuschel. Ich denk nicht weiter drüber nach und hau rein in die Nudeln. Aus dem Blickwinkel merk ich, dass dieser seltsame schwarze Fleck neben den anderen wohl der begehrenswerteste aller Menüpunkte hier ist. Er wird angeschaut, angestupst, gestreichelt.  Ich bin mir sicher, mir fehlt das schwarze Viereck, dann gäbe es mehr Liebe für mich.
Plötzlich passiert es. Ich hab nur kurz an meiner Cola genippt. Für ne Millisekunde mit dem Kopf ins Glas geschaut. Mich dann wieder zurück gebeugt. Und festgestellt: Meine Freunde sind verschwunden. Von jetzt auf gleich. Verschluckt. Nicht ganz. Ihre Körper sind noch da. Bewegungsunfähig, aber noch da. 
Bevor ich weiter drüber nachdenken kann, sind alle auch schon wieder bei Bewusstsein. 
Sie sagen „lecker“ und „ja“ und „Ich muss mal aufs Klo.“, als wäre das alles eben gar nicht passiert. 
Ich habs mir eingebildet, bestimmt. Doch es passiert wieder. Vornüber gebeugte Köpfe, Stille. Rauschen. Sie sind weg. Nicht mehr ansprechbar. Die schwarze Miesmuschel paralysiert meine Freunde. Kurz darauf spuckt sie sie wieder aus und alle schlürfen ihre Schorle, als sei nix gewesen.


Während meine Freund jede Minute für kurze Augenblicke in ein anderes Universum verreisen und mit Wesen kommunizieren, von deren Existenz ich nie gehört habe, konzentrier ich mich aufs Hack. Nipp weiter an meiner Cola und ex den Wein meiner erstarrten Freunde. Bleib auf einem Haufen roter Soße kleben und in einer Welt, die sich selbst nicht mehr genug zu sein scheint. Eine Welt, in der Spaghetti kurz vergessen werden, blaue Himmel, Sonnenuntergänge und Rotweingläser, eine Welt, in der meine Gegenüber für ein paar Momente in einem schwarzen Loch verschwinden, so wie man in einem zu heissen Sommer immer mal wieder kurz in den See springt um sich direkt danach wieder in die Sonne zu legen. 


Ich gewöhn mich an die Unterbrechungen, daran, dass alle anderen für wenige Sekunden einfrieren, Flashback, das ist wie damals beim Stopptanz. Nur dass es etwas länger dauert, bis wieder jemand auf Play drückt.  Guck mir in der Zeit meine Fingernägel an. Die sind auch schwarz. Oder den Rotwein. Oder wie gegenüber gerade jemand gegen die Laterne rennt, weil sein schwarzes Loch mit der Realität kollidiert ist. Er fällt um, verliert das Bewusstsein. Gibt doch ziemlich viele Wege, kurz mal abzuhauen. 





Selfie: Biene
Bildbearbeitung: ?ggi