Freitag, 23. November 2018

Eine Geschichte vom Meer







Sprecher und Ton: Eric Eggert



Sie haben das Meer auf die Straße geworfen. Es war das letzte, was sie auf die Straße geworfen haben und jetzt haben die Menschen endlich wieder Platz.

Vor ihren Häusern tummeln sich Straßenlaternen, Bauzäune und Sandberge, denn es ist Sperrmüllzeit. Manchmal ist es schwierig, sich von Dingen zu trennen. Aber irgendwann mussten die Leute einsehen, dass die Sandberge auf dem Wohnzimmerteppich nur den Weg zur Toilette behindern, dass die Bauzäune vor dem Kühlschrank stören, dass die Straßenlaternen Hauswände einreißen und Dachschäden provozieren. Doch sich von Dingen zu trennen bedeutet auch, alte Gewohnheiten aufzugeben. So wie Erwin zum Beispiel, der jeden Abend seinem Bauzaun noch einmal über die Drähte streichelte und ihn dann mit einer Markise zudeckte, bevor er zu Bett ging. Oder Mathilde, die sich nach ihrem abendlichen Bad noch eine Weile auf den Sandberg legte, der zwischen Tisch und Fernseher sein Dasein fristete. Nur Josef fühlte sich schon immer von seiner Straßenlaterne gestört. Viel zu hell, dachte er. Und immerzu brannte sie die ganze Nacht durch, obwohl er doch bereits um Mitternacht zu Bett ging. 

Im Fernsehen, vor dem meistens der Sandberg lag und den deshalb die meisten Menschen nur wie ein Radio benutzten, hörten sie von einem aktuellen Trend: Man solle sich von unnötigen Gegenständen und Dingen befreien, sagte der Fernseher. Und er sagte es nicht nur einmal. Er predigte von nun an jeden Abend, dass das Leben um so viel reicher, lebendiger und kreativer werden würde, wenn man nur einmal gründlich ausmistete. Das machte die Menschen neugierig. Sie schoben den Sandberg zur Seite und schauten sich den Film in voller Länge an. Hier sahen sie Menschen, die zwischen leeren Betonwänden lebten und sich von Porzellantellern ernährten. Die auf blanken Steinböden schliefen und sich danach unter Duschen stellten, aus denen kein Wasser mehr herauskam. Doch es waren glückliche Menschen. Das erkannte man daran, dass sie die ganze Zeit über lächelten und freundlich zu ihren Betonwänden waren. 

Die Menschen waren ziemlich beeindruckt von dem Werbefilm über ein leeres Leben. Und sie begannen zu überlegen, was sie hinauswerfen könnten, damit ihr Leben glücklicher, freier, vollkommener werden würde. Da man aufgrund der Bauzäune sowieso nur schlecht an die Glasvitrine kam, stellten sie die Vitrine als erstes auf die Straße. Danach kam der Wohnzimmerteppich an die Reihe, den man sowieso nie gesehen hatte, da auf ihm der Sandberg saß. Viel später, als sie den Werbefilm über glückliche Menschen schon sooft gesehen hatten, dass sie ihn auswendig mitsprechen konnte, stellten sie auch den Fernseher hinaus. Schließlich befanden sich nur noch die nötigsten Dinge im Haus: Der Sandberg. Der Bauzaun. Die Straßenlaterne. Auch wenn die meisten sehr fasziniert von dem Werbefilm waren, fiel es den Menschen schwer, sich von diesen letzten, grundlegenden Dingen zu trennen. Es dauerte Monate, Jahre, ja bei manchen sogar noch länger, bis sie es schafften. 

Doch irgendwann erreichte jeder den Tag, der ihm eine Zukunft zwischen leeren Betonwänden ermöglichen sollte. Es war der Tag des Sperrmülls. Und die Menschen taten sich zusammen, schoben die Bauzäune zum Fenster hinaus, schmissen die Sandberge vom Dach und rollten die Straßenlaternen die Treppe hinunter. Es war bereits spät und dunkel und die aus den Häusern geworfenen Straßenlaternen erhellten mit einem mal die Nacht. Die Menschen blickten plötzlich auf das weite sandige Feld, welches sich vor ihren Haustüren auftat. Ein endloses Feld, das bis an den Horizont reichte oder sogar über ihn hinauszugehen schien. So genau konnte man es nicht erkennen. 

Und mit einem mal kam ihnen ein verrückter Gedanke. Am Ende der Straße, im Haus Nummer 87,  wohnte etwas, das sich schon sehr lange nicht mehr hatte blicken lassen. Man munkelte, dass es dort in völliger Isolation, in Einöde und Dreck lebte. Dass es nur wenig Geld besaß, höchstens ein paar verrostete Münzen. Dass es manchmal verschwand, wenn es den Mond zulange angeschaut hatte. Dass es oft betrunken war und unter emotionaler Instabilität litt. Dass es mehr Platz wegnahm, als alle Straßenlaternen, Sandberge und Bauzäune der ganzen Welt zusammengerechnet. 
Das, was dort wohnte, war das Meer. 

Und genau an dem Abend, an dem die Menschen sich endlich selbst bereinigt und allen unnötigen Ballast hinausgeworfen hatten, spürten sie, dass sie nun auch noch diesen letzten Schritt unternehmen mussten, um sich endgültig frei zu fühlen. Sie taten sich zusammen und gingen zum Haus Nr. 87. Sie klopften nicht an, sondern sprangen ohne Vorwarnung durch die angelehnte Balkontür hinein. Und dann schmissen sie das Meer hinaus. Alles ging sehr schnell. Das Meer schlug eine kleine Welle, doch es war zu überrascht und konnte sich nicht ordentlich wehren. Minuten später lag es bereits vor dem Haus. Am nächsten Tag stand in allen Zeitungen, dass das Meer kein Geld mehr für die Miete gehabt und man es deswegen hinausgeworfen hätte. Dass diese Schlagzeilen eine blöde Erfindung von Klatschblättern sind, muss ich nicht extra erwähnen, mache es aber doch. 

Und so liegt das Meer heute vor den Sanddünen und Bauzäunen am Rande der Stadt, auf dem Platz, auf dem noch vor kurzem die große Einöde herrschte. Des Nachts wird es oft von einer Straßenlaterne beschienen. Und manchmal, wenn der Mond es ruft, verschwindet es. Doch am nächsten Morgen liegt es wieder vor den Sandbergen und Bauzäunen, als wenn nie etwas gewesen wäre. 






Foto: Bauzaun





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