Freitag, 22. Mai 2020

Auf dem Mond


Efeu wächst über die Fenster.
Du bist alt
schon über neunzig
und dir wurde gesagt
wenn du alt bist
dann bist du allein
und deshalb ist das so.

Es gibt einen Virus
und niemand darf dich mehr besuchen
und die wenigen Menschen
die ab und zu in dein kleines Zimmer eindringen
sehen so aus
als besuchten sie gerade den Mond.
Womöglich bist du dort hingezogen
denkst du
irgendwann als du kurz
eingeschlafen bist
wie sooft am Nachmittag
wenn du auf deiner weichen, roten Decke liegst 
und für einen Moment die Augen schließt. 

Blick auf deine Zimmertür
die schon so lang verschlossen ist
dass du dich bereits gefragt hast
was sich dahinter wohl verbirgt.
Vielleicht hat sich die Welt da draussen verändert
während du Woche um Woche
auf deiner roten Decke lagst
vielleicht ist der Flur dahinter längst verschwunden
auf dem die vielen anderen saßen
und auf die jeweilige Jahreszeitendekoration starrten
Vielleicht ist die Kantine nur noch Fassade
sind die Tische auseinander gefallen
das Essen fad und schimmelig
die Fenster verdreckt, die Personalzimmer verlassen
die Tapete bröselig geworden.

Vielleicht bist du die Einzige
die übrig geblieben ist
die Einzige, die den Virus überlebt hat
auch wenn niemand damit gerechnet hätte.

Du magst den Fernseher nicht mehr
sagst du.
Früher, da hättet ihr euch gut unterhalten.
Er hat dir vom Sport erzählt, von Musik, ab und zu 
etwas witziges. 
Aber seit dem die Menschen von dir fort bleiben
seit dem du nicht mehr sehen darfst 
was sich hinter deiner Zimmertür verbirgt
seitdem habe er nur noch ein Thema
Wie ein alter, lästig gewordener Ehemann,
über die viel zu langen Jahre unerträglich geworden
der all deine Schwachstellen und Wunden kennt 
und sie nur so zum Spaß
mit Salz bewirft.
Der Einfachheit halber,
hast du ihn ausgeschaltet
die Fernbedienung 
unter deinem Nachttischschränkchen versteckt.

Nun gibt es nur noch dich.
Und ab und zu die Menschen vom Mond. 

Wenn sie vorbeikommen
öffnen sie dein Fenster
und schieben dich davor.
damit der Weg
im Fall der Fälle
nicht so weit sei
gen Himmel.

Blau 
Ist alles was du siehst. 

1969.
Du warst mit deinem Fernseher noch befreundet
hast das spektakuläre Ereignis gesehen.
Die Mode aus dieser Zeit
scheint wieder aktuell
die Menschen um dich herum
schleichen in weissen Anzügen vor dir her
die Scheiben vor ihrem Gesicht
beschlagen
während sie mit dir reden
verstehst du nichts.
Deine Ohren zu alt
ihre Worte aus einer anderen Zeit
der Stoff vor ihren Mündern zu dick.

Es sind schon längst andere geworden
die über dich bestimmen. 
Du verlässt deine rote Decke.
Verlässt dein Zimmer.
Verlässt den Rollstuhl.
Nimmst die Dinge, die du noch hast.
Deine Uhr, die Efeupflanze und die Hochzeitsbilder
deiner Kinder.
Du starrst auf das Blau vor deinem Fenster,
atmest tief ein

du musst nicht gehen
um dort anzukommen
wo du schon bist

unter deinen Füßen der Mond. 














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